Max Richter
Musik hören und dabei einschlafen - ein durchaus gewohnter Vorgang, nicht nur bei Musikredakteuren. Dabei handelt es sich in der Regel um einen eher ungewollten Effekt, schließlich gibt es für einen Künstler kaum ein größere Beleidigung, als seinen Zuhörern beim Schnarchen zuzuhören. Nicht so bei Max Richter, der mit seinem achtstündigen Werk "Sleep" genau das beabsichtigte. Bei der Uraufführung im Oktober 2015 im Berliner Kraftwerk, von Mitternacht bis acht Uhr morgens, standen für das Publikum 500 Feldbetten bereit.
1966 im niedersächsischen Hameln geboren, wächst der Brite östlich von London in Bedford auf. Er studiert Klavier und Komposition an der Universität von Edinburgh und am Royal College of Music in London. Der experimentelle Komponist Luciano Berio, den Richter in Florenz besucht, hat auf sein Werk einen großen Einfluss.
1989 gründet er in London die Gruppe Piano Circus, die aus sechs Pianisten besteht und zunächst das Stück "Six Pianos" des New Yorker Komponisten Steve Reich aufführt, später auch eigens geschriebene Werke, unter anderen von Brian Eno, Michael Nyman oder Terry Riley. Die Gruppe besteht weiter, auch wenn Richter nach zehn Jahren aussteigt.
1996 arbeitet er zum ersten Mal mit der experimentellen Dance-Band The Future Sound of London auf dem Album "Dead Cities" zusammen. 2005 produziert er Folk-Legende Vashti Bunyan ("Lookaftering"), 2008 Kelly Ali von Sneaker Pimps ("Rocking Horse").
Im neuen Jahrtausend beginnt er zudem eine Karriere unter eigenem Namen. "Memoryhouse", sein Debüt 2002, nimmt er mit dem BBC Philharmonic Orchestra auf. 2004 liest die Schauspielerin Tilda Swindon in "The Blue Notebook" aus Franz Kafkas Tagebüchern. Das Album ist ein wütender Protest Richters gegen den Krieg im Irak. Ein Beitrag für die Zeitung The Guardian im Februar 2017 zeigt, dass sich sein Zorn gegenüber dem damaligen britischen Premier Tony Blair immer noch nicht gelegt hat. Er hatte den Feldzug von US-Präsident George W. Bush tatkräftig unterstützt.
Seit 2006 ist Richter geballt als Soundtrack-Komponist tätig. Eine selbst zusammengestellte Auswahl seiner Filmstücke erscheint im Mai 2017 mit dem Titel "Out Of The Dark Room" und enthält Stücke aus "Waltz With Bashir", "Sarahs Schlüssel", "Das Mädchen Wadjda", "Disconnect", "The Congress" und "Testament Of Youth".
2012 erscheint sein erstes Album für Deutsche Grammophon, eine Neufassung von Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten" mit dem Titel "Recomposed by Max Richter: Vivaldi – The Four Seasons", das er in Berlin mit dem Violinisten Daniel Hope und dem Konzerthausorchester Berlin, dirigiert von André de Ridder, aufnimmt.
Sein achtes Studioalbum "Three Worlds: Music From Woolf Works" kommt rund eineinhalb Jahre nach "Sleep" auf den Markt. Die Musik basiert auf der Partitur, die er für das Ballett Woolf Works zusammen mit dem Choreographen Wayne McGregor komponiert hat. Das Werk weist eine dreiteilige Struktur auf. Dabei entsprechen die Teile drei verschiedenen Büchern Virginia Woolfs, nämlich Mrs. Dalloway, Orlando und Die Wellen.
Wer übrigens am 18. November 2017 in Paris weilt und noch auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit ist, kann sich an die Philharmonie de Paris wenden, denn dort findet eine achtstündige Aufführung von "Sleep" mit der Beteiligung des Maestros statt.
Im Februar 2020 erlebt dann die Komposition "Voices", die über eine Dekade Entstehungszeit in Anspruch nimmt, im Londoner Barbican unter Beteiligung von über 60 Musikern ihre Uraufführung. Für die Komposition lädt Max Richter per Crowdsourcing Menschen aus aller Welt ein, in unterschiedlichsten Sprachen ein paar Zeilen aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu lesen, was er mit dem Klang des Orchesters und weiblichen Chören verbindet. Das dazugehörige Album erscheint rund ein halbes Jahres später. Es bietet laut dem Maestro einen "Ort zum Denken und Reflektieren", zeigt aber auch eine "zuversichtliche Vision einer besseren und gerechteren Welt" auf. Zur Platte gibt es zudem noch einen von Yulia Mahr gedrehten Film.
Zeitgleich kommt auch die Sleep-App auf den Markt. Die lässt die Hörer persönliche musikalische Sessions von selbst gewählter Dauer kreieren, zu denen je nach musikalischem Thema von "Sleep" Planeten-Animationen programmiert sind. Jede der Sequenzen - "Sleep", "Meditate" und "Focus" – besitzt ihre eigene gemeinsam mit Richter entwickelte Abfolge von Musik. Kurz zuvor wird er Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Auf "Voices 2" besinnt sich der Brite 2021 auf das Nachdenkliche, so dass man die Ideen des Vorgängers noch einmal Revue passieren lassen kann.
Zum Nachdenken regt auch "Exiles" an, das im selben Jahr erscheint. Das Ende 2019 mit der Baltic Sea Philharmonic unter der Leitung von Kristjan Järvi im Rundfunkhaus in Tallinn eingespielte Werk besteht aus einer gleichnamigen 33-minütigen Komposition, vier Bearbeitungen bekannter Max Richter-Stücke für großes Orchester sowie einer unveröffentlichten Nummer, die es nicht auf "Three Worlds: Music From Woolf Works" geschafft hatte.
Inhaltlich geht es um gesellschaftspolitisch relevante Themen. Das Titelstück hat der Brite als Reaktion auf die humanitäre Katastrophe in Syrien komponiert, die ab Herbst 2015 zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. "On The Nature Of Daylight", "Infra 5" und "The Haunted Ocean", die um frühere Kriege in Nahost sowie die Londoner Terroranschläge im Juli 2005 kreisen, versteht er als "Aktivistenmusik". Einige Nummern eint dabei der Gedanke der Bewegung.
Richters Kompositionsstil lebt vor allem von der Verbindung von Ambient und kammermusikalischer Instrumentierung. Seit seiner Zusammenarbeit mit The Future Sound Of London begreift er Musik als ein Zusammenspiel aus Farben, Klängen und Emotionen, was auf seine Kompositionen abfärbt.
© Laut
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