Gerade als Frau erschreckt es einen feststellen zu müssen, welch glänzende Pianistinnen in Vergessenheit geraten sind. Clara Schumann, Clara Haskil und Elly Ney kommen zwar den Meisten noch in den Sinn. Doch dann endet das kollektive Gedächtnis und ins Bewusstsein rücken mit Martha Argerich, Mitsuko Uchida oder Hélène Grimaud bezeichnenderweise Pianistinnen, denen man regelmäßig auf den Konzertpodien begegnet. Zwar gibt es ausgezeichnete Klavierspielerinnen bereits seit der Entstehung des Bürgertums, doch wurde ihre Kunst oft nur als Pluspunkt bei der Suche nach Heiratskandidaten geschätzt. Öffentliche Auftritte hingegen waren eher unerwünscht. Die Literatur bietet Beispiele dafür, dass zu gutes Klavierspiel sogar als verwerflich und unmoralisch angesehen wurde, man denke nur an Tolstois “Kreutzersonate”. In den Salons des 19. Jahrhunderts erhielten Frauen zwar zunehmend die Möglichkeit, sich auch außerhalb des eigenen Haushalts zu präsentieren, aber auch das nur in einem überschaubaren Rahmen.

Selbst Pianistinnen wie Nannerl Mozart oder Fanny Hensel standen im Schatten der Männer. Und sogar Clara Schumann, die Frauen in der Klavierwelt des 19. Jahrhunderts den Weg ebnete, nahm ihre aktive Konzertkarriere erst nach dem Tod ihres Mannes wieder auf. Ihre Interpreta­tionen von dessen Werken waren exemplarisch, zudem wirkte sie prägend als Klavierpädagogin. Mit der Jahrhundertwende eroberten dann Klavierdamen zunehmend auch die Bühnen und machten Männern Konkurrenz. So wurde die Amerikanerin Amy Fay (1844-1928), die noch bei Franz Liszt studiert hatte, nach ihrer Rückkehr nach Amerika zur gefeierten Lehrerin und Konzertpianistin. 1899 gründete sie die Women’s Philharmonic Society in New York. Die vielleicht erste international anerkannte Pianistin war die Venezolanerin Teresa Carreño (1853-1917), die berühmt war für ihre Kraft und Ausdauer – Claudio Arrau nannte sie eine Göttin. Ebenfalls weltweit gerühmt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg die erwähnte Clara Haskil (1895-1960), deren Mozart-Interpretationen bis heute als legendär gelten.

Trotz dieser Wegbereiterinnen sind die im Folgenden vorgestellten Pianistinnen heutzutage weitgehend in Vergessenheit geraten. Das mag teilweise daran liegen, dass Aufnahmen, die ihre Kunst hätten überdauern können, verschollen sind (Youra Guller). Andere von ihnen scheinen sich bewusst dafür entschieden zu haben, sich aus dem Konzertbetrieb zurückzuziehen, um sich auf das Unterrichten zu konzent- rieren (Maria Curcio). Und in manchen Fällen wurden Karrieren schicksalhaft beendet (Mihaela Ursuleasa). Doch auch bis zum Ende bravouröse Karrieren wie beispielsweise die von Alicia de Larrocha sind inzwischen verblasst. Eine Ungerechtigkeit der Musikgeschichte und Grund genug, diese brillanten Pianistinnen wieder neu zu entdecken.

Die Missachtete

Youra Guller (1895-1980)

Pablo Casals, Alfred Cortot und Ernest Ansermet kannten sie und hielten große Stücke auf die Französin, doch heute ist Youra Guller weitgehend unbekannt und war sogar in der einschlägigen Fachliteratur nicht zu finden. Mit fünf Jahren erhielt sie ihren ersten Unterricht, mit neun Jahren wurde sie bereits am Pariser Konservatorium angenommen, widmete sich dort jedoch eher der ­Violine denn dem Klavier. Später wurde sie zum Mittelpunkt der Pariser Gesellschaft und verkehrte in den Salons des Hauses Polignac, sie spielte mit Albert Einstein und zählte Pablo Picasso zu ihren Freunden. Als sie von einer zehntägig geplanten Tournee nach Shanghai erst acht Jahre später zurückkehrte, standen die Zeichen schlecht für die Wiederaufnahme einer Karriere: Die Wehrmacht marschierte in Paris ein, und als Jüdin musste sie sich verstecken. Nach dem Krieg spielte sie nur noch, wenn sie das Geld brauchte. Erst 1965 entdeckte sie der Klavierpädagoge Peter Feuchtwanger und verhalf ihr zu ihrem Debüt in New York 1971 im Alter von 76 Jahren. In ihren letzten Jahren konnte sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten und wurde von Yehudi Menuhin, Radu Lupu und Martha Argerich finanziell unterstützt.

Vergessene Legende

Maria Curcio (1918-2009)

“Wenige, die außerhalb der Welt der klassischen Musik stehen, haben von Maria Curcio gehört, aber innerhalb dieser Welt ist sie eine Legende”, konstatierte 2001 “The Independent”. 1918 in Neapel als Tochter einer italienischen Mutter und eines brasilianischen Vaters geboren, wurde ihr Talent früh erkannt. Nach erstem Unterricht unter anderem bei Alfredo Casella nahm sich Arthur Schnabel ihrer an – obwohl er normalerweise keine Jugendlichen unterrichtete. Mit großem Erfolg konzertierte sie unter der Leitung von Otto Klemperer und begleitete den Geiger Szimon Goldberg sowie Elisabeth Schwarzkopf. Zur Legende wurde Maria Curcio, als sie sich dem Unterrichten verschrieb. Ab 1965 lebte sie in London, von wo aus sie die Welt bereiste, um ihre Liebe zur Musik weiterzugeben. Zu ihren wichtigsten Schülerinnen und Schülern gehören Martha Argerich, Radu Lupu, Pierre-Laurent Aimard, Mitsuko Uchida und Eric Le Sage.

Die Preisträgerin

Bella Davidovich (* 1928)

Bella Davidovich gelang ein Meilenstein, als sie 1949 als erste Frau den Internationalen Chopin-Wettbewerb gewinnen konnte. 1928 in Baku (Aserbaidschan, damals Sowjetunion) in eine Musikerfamilie geboren, erhielt sie ihren ersten Klavierunterricht mit sechs Jahren und trat mit neun erstmals öffentlich auf. Sie studierte am Moskauer Konservatorium bei Konstantin Igumnov und Yakov Flier. Nach dem Erfolg beim Chopin-Wettbewerb begann ihre Karriere in der Sowjetunion und Osteuropa. Sondergenehmigungen ermöglichten ihr ab 1967 Konzerte im Westen. Als sie 1977 ihren Sohn, den Geiger Dmitri Sitkowetski zu einer Tour in die USA begleitete, von der dieser nicht zurückkam, wurden seitens der sowjetischen Regierung all ihre Konzerte im Ausland abgesagt. Nur ein Jahr später verließ sie die Sowjetunion und ging nach Amerika, wo sie nach ihrem Debüt in der Carnegie Hall zur gefragten Solistin und Lehrerin an der Juilliard School wurde. Besonders in Erinnerung geblieben sind ihre Interpretationen des romantischen Repertoires, vor allem der Werke Chopins.

Muse der Avantgarde

Marcelle Meyer (1897-1958)

Maurice Ravel, Claude Debussy, Francis PoulencMarcelle Meyer kannte sie alle. Die Französin galt als Muse der Avantgarde und scharte in Paris ihre Bewunderer um sich. Ihren ersten Klavierunterricht erhielt sie von ihrer Schwester, bevor sie ab 1911 bei Alfred Cortot und Marguerite Long am Pariser Konservatorium studierte. Später setzte sie ihre Studien bei Ricardo Viñes fort, über den sie auch Ravel kennenlernte. Mit 16 Jahren gewann sie mit der Aufführung eines Klavierkonzerts von Saint-Saëns ihren ersten Preis. Sie zeichnete sich vor allem durch ein sehr breites Repertoire aus – auf der einen Seite war sie an Uraufführungen ihrer Zeitgenossen beteiligt und hierbei sehr gefragt. Auf der anderen Seite setzte sie sich (am modernen Klavier) mit der Musik von François Couperin, Jean-Philippe Rameau, Johann Sebastian Bach und Domenico Scarlatti auseinander. Wie wichtig sie in der Pariser Szene als Muse war, beweist ein Gemälde Jacques-Émile Blanches, der sie im Zentrum der Groupe des Six porträtierte (siehe S. 4 oben). 1958 starb sie überraschend während der Vorbereitungen auf eine Amerikatournee.

Ungarisches Temperament

Edith Farnadi (1921-1973)

In ihren ganz frühen Jahren galt sie bereits als Wunderkind, doch heute ist Edith Farnadi nicht mal mehr musik- affinen Kreisen ein Begriff. Die Ungarin erhielt ihren ersten Klavierunterricht bei ihrer Mutter und kam bereits mit sieben Jahren an das Franz-Liszt-Konservatorium in Budapest, wo sie Schülerin unter anderen von Arnold Székely, Béla Bartók und Leo Weiner war. Während ihrer Zeit am Konservatorium gewann sie gleich zweimal den Franz Liszt-Preis. Mit zwölf trat sie mit Beethovens erstem Klavierkonzert auf, das Orchester leitete sie vom Klavier aus. Nach ihrem Abschluss blieb sie zunächst als Lehrerin an der Liszt Akademie, bevor sie nach dem Zweiten Weltkrieg nach Graz übersiedelte. Dort kombinierte sie eine Karriere als Lehrerin mit der als Konzertpianistin und Kammermusikerin. Ab 1950 nahm sie für das Label Westminster auf. Bekannt geworden sind vor allem ihre Aufnahmen der Werke von Franz Liszt und Béla Bartók.

Unermüdliche Kämpferin

Myra Hess (1890-1965)

Myra Hess war eine Persönlichkeit: Sie liebte anzügliche Witze, spielte gerne Karten, rauchte in der Öffentlichkeit und hatte darüber den ein oder anderen Spleen entwickelt. 1890 als viertes Kind einer deutsch-jüdischen Familie in London geboren, begann sie mit fünf Jahren mit dem Klavierspiel. Nach ihrem Studium an der Royal Academy of Music machte sie früh Karriere, trat mit keinen Geringeren als Fritz Kreisler und Isaac Stern auf, eroberte aber auch als Solistin die Konzertbühnen Europas und Nordamerikas. Dabei überzeugte sie vor allem mit ihren Interpretationen der Werke von Scarlatti, Bach, Mozart, Beethoven, Schumann und Brahms. Im Zweiten Weltkrieg organisierte sie 1700 Konzerte in der National Gallery in London – allen Unwägbarkeiten zum Trotz. Für diese musikalische Art des Widerstands gegen den Nationalsozialismus wurde sie 1941 geadelt. Aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands musste sie Anfang der 1960er-Jahre ihre Konzerttätigkeit aufgeben und starb schon bald darauf in London.

Die Beethoven-Interpretin

Annie Fischer (1914-1995)

Technische Kraft und geistige Tiefe ihres Spiels waren es, für die Annie Fischer bewundert wurde. Die Ungarin gehörte quasi zu den Kommilitonen von Edith Farnadi an der Liszt-Akademie Budapest. Während ihrer Studien bei Ernst von Dohnányi lernte sie auch Georg Solti kennen. Bereits mit 13 Jahren gab sie Konzerte im Ausland, 1933 gewann sie den Liszt-Wettbewerb in Budapest. Prägend für ihre Karriere war auch ihre Ehe mit dem Musikwissenschaftler und Kritiker Aladar Toth. Nach dem Aufführungsverbot für Juden 1939 entging das Ehepaar der Verfolgung in Ungarn, indem es 1940 nach Schweden floh, wo Fischer eine Weile Unterricht gab. Nach ihrer Rückkehr 1946 wurde Toth Direktor der Budapester Oper und holte Otto Klemperer als musikalischen Leiter ans Haus. Mit ihm und Wolfgang Sawallisch machte Fischer in den 1950er-Jahren einige Studio-Aufnahmen, was ihr aufgrund des fehlenden Publikums nicht zusagte. Bekannt wurde sie durch ihre Live-Aufnahmen, sogar legendär für ihre Einspielung aller Beethoven-Sonaten, die sie – als Perfektionistin – zu Lebzeiten nicht freigab.

Madame Mozart

Ingrid Haebler (* 1929)

Ihr musikalisches Programm ist das ihrer Heimatstadt Wien – zumindest hat man diesen Eindruck wegen ihrer Erfolge als Mozart- und Schubert-Interpretin. Ihre Liebe zur Musik des in Salzburg Geborenen bekam Ingrid Haebler von ihrem Lehrer Heinz Scholz ebendort vermittelt. 1954 gewann sie den Ersten Preis beim Internationalen Schubert-Wettbewerb in Genf und beim ARD-Wettbewerb. Seitdem war sie auf den großen Bühnen der Welt zu Hause und ab 1969 auch Professorin am Mozarteum in Salzburg. Noch in den 1990er-Jahren überzeugte Ingrid Haebler noch bei gefeierten Konzertreisen durch Japan und fulminanten Auftritten in New York. Natürlichkeit und Schlichtheit ihres Spiels in Verbindung mit Wärme und Gefühl lobte die Fachwelt besonders bei ihren Mozart-Interpretationen. Sie hat nicht nur alle Klaviersonaten und Klavierkonzerte dieses Komponisten eingespielt, sondern auch – gemeinsam mit Henryk Szeryng und Arthur Grumiaux – die Violinsonaten. 2009 entschied Ingrid Haebler, sich aus dem Konzertleben zurückzuziehen.

Botschafterin Spaniens

Alicia de Larrocha (1923-2009)

Hinter jeder starken Frau steht ein starker Mann – Moment, war das nicht andersherum? Doch im Fall von Alicia de Larrocha trifft dies ausnahmsweise zu, wäre ihre Karriere doch nicht möglich gewesen ohne ihren Mann Juan Tarra, der die beiden gemeinsamen Kinder aufzog, obgleich er ebenfalls Pianist war. Bereits in jungen Jahren erhielt de Larrocha Klavierunterricht bei Frank Marshall, einem Schüler Enrique Granados, und durfte mit gerade einmal sechs bei der Weltausstellung in Barcelona auftreten; fünf Jahre später folgte ihr Debüt mit Orchester. Ab 1947 unternahm sie Tourneen, die sie in die ganze Welt führten. Dabei spielte sie unter Eugen Jochum, Giuseppe Sinopoli, Zubin Mehta und Sir Simon Rattle. Auch als Kammermusikerin, Lied- und Klavierpartnerin war sie gefragt. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf dem klassischen und romantischen Repertoire mit den Fixsternen Mozart und Schumann. Außerhalb Spaniens war sie vor allem als Vertreterin der Katalanischen Klavierschule gefragt. Ab 1959 gab Alicia de Larrocha ihr Wissen auch an einem privaten Konservatorium weiter, das sie gemeinsam mit ihrem Mann leitete.

Die Tänzerin

Mihaela Ursuleasa (1978-2012)

Wenn Mihaela Ursuleasa spielte, so schien es, als würde sie mit dem Flügel tanzen. Mit jedem Ton kroch sie in das Instrument hinein, agierte mit dem ganzen Körper. Die Rumänin, Tochter eines Rom und Jazzpianisten und einer moldawischen Sängerin, war ein Wunderkind, das bereits mit neun Jahren auf Konzertreisen ging. Claudio Abbado gab ihr den Rat, sich mehr Zeit zu lassen und sich ganz in Ruhe ihrer schulischen und musikalischen Ausbildung zu widmen. Als sie nach der Ausbildung in Wien zurück auf die Bühne kam, reihten sich die Erfolge: 1995 gewann sie den Internationalen Clara-Haskil-Wettbewerb, 1998 folgte das Debüt bei den Salzburger Festspielen. Nach ihrem Konzertexamen 1999 war sie auf den großen Bühnen der Welt zu Gast und spielte unter anderen mit dem Orchestre National de France, dem London Philharmonic Orchestra und dem Concertgebouw Amsterdam. Gemeinsam mit Sol Gabetta und Patricia Kopatschinskaja bildete sie ein Klaviertrio. Die vielversprechende Karriere endete viel zu früh, als sie am 2.8.2012 in ihrer Wiener Wohnung an den Folgen einer Hirnblutung starb.